
Bildrechte: Katrin Karras
Gedanken über "Die Kreuzigung“ von Willy von Beckerath
Heute morgen habe ich mit meiner Freundin Anne in Hamburg telefoniert. Wir kennen uns inzwischen an die 25 Jahre. Anne ist ein toller Mensch. Sie hat sich durch ihre Ausbildung gekämpft, hat jetzt einen guten Job und eine schicke Wohnung mitten in der Stadt ganz für sich allein. Sie wuppt alles, was sie sich vornimmt. Sie kann Abflüsse reparieren, Wände tapezieren, zauberhafte Torten backen und wunderbar zuhören. Meistens geht es laut und lustig zu, wenn wir uns treffen und sie hat ein herzerfrischendes Lachen.
Und dann unser Gespräch heute. Gar nicht lustig und frisch. Anne erzählt mir, dass ihr die Nachrichten Angst machen, dass sie sich um ihre alte Mutter sorgt, sie sie aber natürlich lieber nicht besuchen fährt, das wäre ja verantwortungslos. Dass sie sich eingedeckt hat mit Lebensmitteln und nun seit Mitte letzter Woche eine von den wenigen ist, von denen im Fernsehen immer geredet wird: sie macht jetzt „homeoffice“ und ist also allein in ihrer Wohnung, nur sie, ihr Telefon und und ihr Computer. Seit Tagen schon. Ihre Unahängigkeit wird ihr zur Einsamkeit. Das praktische Homeoffice zur Falle. Die schicke Wohnung zum Gefängnis. Anne fühlt sich allein und verlassen, aufgeschmissen und abgehängt. Ehrlich gesagt würde ich am liebsten zu ihr sagen: „Mensch, reiß dich zusammen und sei froh, dass du es gemütlich und bequem hast! Dank mal an die Verkäuferinnen und Krankenschwestern – DIE haben es jetzt schwer!“ - Aber das hilft Anne in ihrer Situation jetzt auch nicht. Denn das eigentliche Problem, das sie hat, ist ihre Einsamkeit. Als wir am Ende des Gesprächs auflegen, habe ich ein mulmiges Gefühl im Bauch und fühle mich ein bisschen hilflos.
Später kommt mir das Bild in den Sinn, das unsere Pastorin gerne in der Löwenberger Kirche aufhängen möchte und das in der Gemeinde schon für so manch heiße Diskussionen gesorgt hat: “Die Kreuzigung“ von Willy von Beckerath. Auf den ersten Blick darauf zu sehen: zu viele nackte Männer. Ja, - die lasssen sich nicht wegdiskutieren... Und dennoch lohnt sich ein zweiter und auch dritter und vierter Blick. Warum mir dieses Bild gerade jetzt in den Sinn kommt? Weil es das Thema hat, um das es auch in meinem Gespräch mit Anne ging: Einsamkeit.
Da ist der umjubelte Jesus, der Menschenfischer, ein super toller Kerl. Läuft herum, begeistert mit seiner Botschaft und die Leute lassen alles stehen und liegen, um mit ihm mitzugehen. Wo er auftaucht, da ist was los! Er kann sich kaum retten vor Fans. Ein tolles Leben, das er führt, so könnte es doch eigentlich für immer weitergehen.... Und dann kriecht da plötzlich etwas an ihn heran, das alles verändert: Verrat, Verläumdung, Verurteilung. Von einem Tag auf den anderen steht seine Welt und die seiner Freunde Kopf. Die Zeiten der erfolgsgewohnten Wandertruppe ist vorbei, Endstation. Wir wissen, wie die Geschichte weitergeht: gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben. Endstation – diese hält Beckerath in seinem Bild eindrucksvoll fest. Da ist plötzlich niemand mehr, der jubelt und lacht und ein Leben führt, das so für immer weitergehen könnte. Jesus in seiner schlimmsten Stunde, seiner Sterbestunde, gefoltert und gekreuzigt und ganz allein, verlassen und abgehängt. Keiner seiner Freunde ist zu sehen. Eine geradezu erschütternde Isoliertheit macht sich auf dem Bild breit. Da ist niemand, der Jesus beisteht in seiner schlimmsten Stunde, keine Familie, keine Freunde und schon gar keine Fans. Die Männer unterhalb des Kreuzes gucken desinteressiert umher, der zweite Kreuzigungszeuge von rechts unten, der mit dem anderen schon um die Kleider des Verurteilten würfelt, hält sich sogar sein Ohr zu, um die verzweifelten Schmerzschreie, die vom Kreuz her kommen, nicht hören zu müssen. "Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Jesus fühlt sich allein, da ist nichts mehr übrig von der Selbstsicherheit des „Ich aber sage euch“ - Predigers. Da ist nur noch Verlassensein und Einsamkeit. Ein deprimierendes Bild. Warum malt jemand so was? Ich lasse meinen Blick frustiert über das Bild schweifen und entdecke plötzlich einen kleinen Trost, ein Lichtblick in der sich breitmachenden Desillusion: der gekreuzigte Übeltäter rechts von Jesus, - er wendet sein Gesicht Christus zu! In seiner letzten Minute wird der schlimme Mensch gläubig. „Jesus, denke an mich, wenn du in dein Reich kommst!“ und dieser sagt zu ihm „Heute wirst du mit mir im Paradies sein!“ In aller Fürchterlichkeit ein Funke Hoffnung „Denk an mich...“ Zwei Menschen wenden einander zu, die unterschiedlicher nicht sein könnten und die früher noch nie etwas miteinander zu tun gehabt haben. Eine Zufallsbekanntschaft? Jedenfalls ein Augenblick, der Hoffnung macht und der uns unerwartet herausreißt aus einem Bild voll Einsamkeit.
„Denk an mich.“ Ja, das ist das, was auch ich in unserer verordneten Isoliertheit für meine Freundin tun kann, es ist nicht viel, aber – an Anne denken und einen kleinen Augenblick schaffen, der vielleicht Hoffnung gibt, das kann ich doch versuchen. Also schnapp ich mir mein Handy und gehe in unseren Garten hinaus, der noch wild und ungestüm vor sich hinwächst und mit dem wir so viel vorhaben und doch noch nicht losgelegt haben. Ich rufe Anne per Whatsapp an und schalte die Kamera ein. Auf diese Weise gehe ich mit ihr durch unseren Garten, zeige ihr das schöne Wetter und die herrliche Sonntagssonne. Zeige ihr den Grüneberger Kirchturm in der Ferne, vom dem wir bis hier die Glocken hören können. Zeige ihr den blühenden Busch und auch die Gänseblümchen auf dem Rasen, den wir noch nicht gemäht und das blühende Unkraut, das wir noch nicht gerupft haben, untersuche gemeinsam mit ihr die ersten Knospen an unserem wunderschönen Birnenbaum, auf dessen Blätterkrone und Früchte wir uns schon wieder so freuen.
Und wir lachen dabei viel am Telefon, vor allem über unseren etwas zu wilden Garten. Nicht viel, was ich tun kann für meine Freundin, die weiter allein sein wird in ihrer Wohnung. Aber ein kleiner Trost, ein Lichtblick, der ihr zeigt: ich denk an dich.
Indra Hesse,
Grüneberg am Sonntag, den 22. März 2020.
Und dann unser Gespräch heute. Gar nicht lustig und frisch. Anne erzählt mir, dass ihr die Nachrichten Angst machen, dass sie sich um ihre alte Mutter sorgt, sie sie aber natürlich lieber nicht besuchen fährt, das wäre ja verantwortungslos. Dass sie sich eingedeckt hat mit Lebensmitteln und nun seit Mitte letzter Woche eine von den wenigen ist, von denen im Fernsehen immer geredet wird: sie macht jetzt „homeoffice“ und ist also allein in ihrer Wohnung, nur sie, ihr Telefon und und ihr Computer. Seit Tagen schon. Ihre Unahängigkeit wird ihr zur Einsamkeit. Das praktische Homeoffice zur Falle. Die schicke Wohnung zum Gefängnis. Anne fühlt sich allein und verlassen, aufgeschmissen und abgehängt. Ehrlich gesagt würde ich am liebsten zu ihr sagen: „Mensch, reiß dich zusammen und sei froh, dass du es gemütlich und bequem hast! Dank mal an die Verkäuferinnen und Krankenschwestern – DIE haben es jetzt schwer!“ - Aber das hilft Anne in ihrer Situation jetzt auch nicht. Denn das eigentliche Problem, das sie hat, ist ihre Einsamkeit. Als wir am Ende des Gesprächs auflegen, habe ich ein mulmiges Gefühl im Bauch und fühle mich ein bisschen hilflos.
Später kommt mir das Bild in den Sinn, das unsere Pastorin gerne in der Löwenberger Kirche aufhängen möchte und das in der Gemeinde schon für so manch heiße Diskussionen gesorgt hat: “Die Kreuzigung“ von Willy von Beckerath. Auf den ersten Blick darauf zu sehen: zu viele nackte Männer. Ja, - die lasssen sich nicht wegdiskutieren... Und dennoch lohnt sich ein zweiter und auch dritter und vierter Blick. Warum mir dieses Bild gerade jetzt in den Sinn kommt? Weil es das Thema hat, um das es auch in meinem Gespräch mit Anne ging: Einsamkeit.
Da ist der umjubelte Jesus, der Menschenfischer, ein super toller Kerl. Läuft herum, begeistert mit seiner Botschaft und die Leute lassen alles stehen und liegen, um mit ihm mitzugehen. Wo er auftaucht, da ist was los! Er kann sich kaum retten vor Fans. Ein tolles Leben, das er führt, so könnte es doch eigentlich für immer weitergehen.... Und dann kriecht da plötzlich etwas an ihn heran, das alles verändert: Verrat, Verläumdung, Verurteilung. Von einem Tag auf den anderen steht seine Welt und die seiner Freunde Kopf. Die Zeiten der erfolgsgewohnten Wandertruppe ist vorbei, Endstation. Wir wissen, wie die Geschichte weitergeht: gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben. Endstation – diese hält Beckerath in seinem Bild eindrucksvoll fest. Da ist plötzlich niemand mehr, der jubelt und lacht und ein Leben führt, das so für immer weitergehen könnte. Jesus in seiner schlimmsten Stunde, seiner Sterbestunde, gefoltert und gekreuzigt und ganz allein, verlassen und abgehängt. Keiner seiner Freunde ist zu sehen. Eine geradezu erschütternde Isoliertheit macht sich auf dem Bild breit. Da ist niemand, der Jesus beisteht in seiner schlimmsten Stunde, keine Familie, keine Freunde und schon gar keine Fans. Die Männer unterhalb des Kreuzes gucken desinteressiert umher, der zweite Kreuzigungszeuge von rechts unten, der mit dem anderen schon um die Kleider des Verurteilten würfelt, hält sich sogar sein Ohr zu, um die verzweifelten Schmerzschreie, die vom Kreuz her kommen, nicht hören zu müssen. "Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Jesus fühlt sich allein, da ist nichts mehr übrig von der Selbstsicherheit des „Ich aber sage euch“ - Predigers. Da ist nur noch Verlassensein und Einsamkeit. Ein deprimierendes Bild. Warum malt jemand so was? Ich lasse meinen Blick frustiert über das Bild schweifen und entdecke plötzlich einen kleinen Trost, ein Lichtblick in der sich breitmachenden Desillusion: der gekreuzigte Übeltäter rechts von Jesus, - er wendet sein Gesicht Christus zu! In seiner letzten Minute wird der schlimme Mensch gläubig. „Jesus, denke an mich, wenn du in dein Reich kommst!“ und dieser sagt zu ihm „Heute wirst du mit mir im Paradies sein!“ In aller Fürchterlichkeit ein Funke Hoffnung „Denk an mich...“ Zwei Menschen wenden einander zu, die unterschiedlicher nicht sein könnten und die früher noch nie etwas miteinander zu tun gehabt haben. Eine Zufallsbekanntschaft? Jedenfalls ein Augenblick, der Hoffnung macht und der uns unerwartet herausreißt aus einem Bild voll Einsamkeit.
„Denk an mich.“ Ja, das ist das, was auch ich in unserer verordneten Isoliertheit für meine Freundin tun kann, es ist nicht viel, aber – an Anne denken und einen kleinen Augenblick schaffen, der vielleicht Hoffnung gibt, das kann ich doch versuchen. Also schnapp ich mir mein Handy und gehe in unseren Garten hinaus, der noch wild und ungestüm vor sich hinwächst und mit dem wir so viel vorhaben und doch noch nicht losgelegt haben. Ich rufe Anne per Whatsapp an und schalte die Kamera ein. Auf diese Weise gehe ich mit ihr durch unseren Garten, zeige ihr das schöne Wetter und die herrliche Sonntagssonne. Zeige ihr den Grüneberger Kirchturm in der Ferne, vom dem wir bis hier die Glocken hören können. Zeige ihr den blühenden Busch und auch die Gänseblümchen auf dem Rasen, den wir noch nicht gemäht und das blühende Unkraut, das wir noch nicht gerupft haben, untersuche gemeinsam mit ihr die ersten Knospen an unserem wunderschönen Birnenbaum, auf dessen Blätterkrone und Früchte wir uns schon wieder so freuen.
Und wir lachen dabei viel am Telefon, vor allem über unseren etwas zu wilden Garten. Nicht viel, was ich tun kann für meine Freundin, die weiter allein sein wird in ihrer Wohnung. Aber ein kleiner Trost, ein Lichtblick, der ihr zeigt: ich denk an dich.
Indra Hesse,
Grüneberg am Sonntag, den 22. März 2020.
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