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Lesvos Solidarity
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Lesvos Solidarity

Ein Bericht von Nele Poldrack und Ute Gniewoß über die Arbeit im Flüchtlingsprojekt „Lesvos Solidarity“ auf der Insel Lesbos

Lesbos, den 2.9.2018
Nele Poldrack aus der Kirchengemeinde Leegebruch
Ute Gniewoß aus der Kirchengemeinde Heilig Kreuz-Passion.

Liebe Spenderinnen und Spender, liebe Interessierte,

mit diesem Brief wollen wir euch neue Eindrücke von dem Flüchtlingsprojekt „Lesvos Solidarity“ auf der Insel Lesbos weitergeben und davon erzählen, wofür Eure Spenden eingesetzt wurden.

Abends sitzen wir am Meer. Es ist früh dunkel hier, aber immer noch schön warm. Wir lassen die Eindrücke des Tages an uns vorüberziehen. Am Horizont sehen wir eine kleine blinkende Lichterkette. Dort sind Häuser und Dörfer genauso wie hier an der Küste. Dort ist die Türkei, hier sind wir in Griechenland. Dieses Stück Meer haben fast alle Flüchtlinge im Schlauchboot überquert, mit denen wir in den letzten Tagen zu tun hatten.
Im gesamten Mittelmeer sind in den letzten vier Jahren 15 000 Menschen ums Leben gekommen. Das Sterben geht immer noch weiter. Es ist eine humanitäre Katastrophe in unserer Zeit und wir können unseren Kindern nicht sagen, dass wir nichts davon gewusst haben.
Der Vollmond geht orange über dem Meer auf. Alle Gäste recken ihre Hälse, um ihn gut sehen zu können. Der Mond ist schön. Und was wir in den letzten Tagen im Flüchtlingscamp Pikpa an Einsatz und Freundlichkeit erleben durften, war auch schön.

Wir arbeiten im „Shop“ oder wie manche sagen in den „Pikpa Boutique“ im Flüchtlingscamp „Pikpa“. Gebrauchte Kleidung wird sortiert und an die Flüchtlinge weitergegeben. Die meisten haben einen Termin, denn sonst wird es in dem kleinen Raum zu chaotisch. Heute kommen u.a. zwei afrikanische Frauen. Sie haben am gleichen Tag ihre Babys bekommen, die jetzt drei Wochen alt sind. In Pikpa sind sie gerade erst angekommen und brauchen fast alles. Wie selbstverständlich sprechen sie uns mit „Mother“ an und wie selbstverständlich geben sie uns ihre Babys. So sitzt dann Ute mit den Babys im Arm auf einem Stuhl und Nele zeigt den Frauen, wo sie finden, was sie brauchen. Stark und selbstbewusst sind die beiden. Sie gehen sehr aufrecht und ihre Haare sind kunstvoll arrangiert. Später bei einer Versammlung der Freiwilligen erfahren wir, dass sie in einer Woche eine Babyparty machen wollen. Viele im Camp, Bewohner und Freiwillige, überlegen, wie sie sich an der Party beteiligen können. Wir wissen nicht, was diese beiden alleinstehenden Frauen hinter sich haben. Wir wissen nur, dass sie es in dem berüchtigten Camp Moria nicht mehr ausgehalten haben. Wir sind sehr bewegt davon, wie aufrecht und würdevoll sie uns voller Vertrauen entgegentreten.

Uns fällt auf, dass es inzwischen viele hilfreiche Strukturen für die Bewältigung der Arbeit gibt. Das sehen wir im „Shop“, wo wir fachkundig in unsere Aufgaben eingewiesen wurden und schon eine Liste mit abzuarbeitenden „Kundenterminen“ vorfanden. Das Gelände wirkt insgesamt sehr friedlich und ansprechend mit den kleinen Hütten unter Kiefern. Viele der BewohnerInnen sind in Aktivitäten eingebunden, gehen in den Unterricht oder in ihre kleinen Jobs und die Kinder sind in zwei eigenen Kindergärten gut versorgt.

Bei den Freiwilligen, die hier mitarbeiten, gibt es inzwischen viele Teams, die ganz unterschiedliche Aufgaben haben. Die Kommunikation zwischen den Teams klappt über Teamsitzungen und Emails gut. So gibt es eine Küchen- und Lebensmittelverteilung und eine Gruppe, die ständig repariert, konstruiert und baut. Ein Team kümmert sich um Fundraising und internationale Kontakte, eins um Außenaktivitäten und Events, in die soweit wie möglich auch die lokale Bevölkerung einbezogen wird. Die BewohnerInnen sind auf verschiedene Weise auch in die Organisation des Camps eingebunden, z.B. mit Reinigungsdiensten, Kochen und Backen. Einmal in der Woche können sie beim „residents meeting“ miteinander und mit den Leitenden diskutieren und Vorschläge einbringen. Manches wird umgesetzt.

Beeindruckt waren wir auch von der verabschiedeten „Constitutional map“, einer Art Grundordnung für die Aktivitäten von Lesvos Solidarity, die gleichermaßen den Geist der Freiheit und der Verbindlichkeit für alle Beteiligten atmet. (Wer das Schriftstück auf Englisch haben will – wir schicken es auf Wunsch per email zu).

In Pikpa leben zurzeit etwa 100 Menschen, fast die Hälfte davon sind Kinder. Es sind nach wie vor Menschen, die besonders verletzbar sind: Behinderte, schwer Traumatisierte, Kinder, Schwangere, Schwule und Transsexuelle, Alte und chronisch Kranke. In den meisten Stereotypen von Flüchtlingen tauchen sie jedoch nicht auf. Bei dem Begriff „Flüchtling“ denken viele an alleinstehende junge starke Männer – aber nein, auch diese Menschen hier sind auf der Flucht. Wir begegnen z. B. einer jungen Frau im Rollstuhl. Wie ist sie hierhergekommen? War der Rollstuhl im Schlauchboot? Wer hat ihr geholfen?

Die Versorgung dieser Hundert Menschen wird ausschließlich durch Spenden finanziert (Essen, Rechtsberatung, psychologische Beratung, Anwälte, ärztliche Betreuung, Bustickets ...) Darüber hinaus wird mit Spendenmitteln das Bildungszentrum „Mosaik“ finanziert, an dem 30 Lehrkräfte arbeiten (auch viele Flüchtlinge aus Moria besuchen hier Sprachkurse, gehen in den Chor oder nehmen die Kreativangebote wahr). Auch der Aufbau des Restaurants „NAN“ (übersetzt: Brot) wurde mit Spenden bezahlt. Dieses Restaurant arbeitet inzwischen mit 10 Leuten, die dort einen Arbeitsplatz bekommen haben, fünf Flüchtlinge und fünf GriechInnen. Es ist gut besucht, es werden Gerichte aus der ganzen Welt gekocht. Das Essen ist preiswert und sehr lecker. Die Rohprodukte sind hochwertig und kommen zum größten Teil aus der Region.

Wer in Pikpa arbeitet, bekommt in der Regel kein Geld, sondern nur ein tägliches Essen und Bustickets. Im Moment sind etwa 20 Freiwillige aus ganz Europa da. Wenigen Freiwilligen wird, wenn sie länger bleiben können, ein kleines Arbeitsentgelt gezahlt. Auf diese Weise wird die Kontinuität der Arbeit gesichert. Dieses Angebot bekommen nur Freiwillige, die durch hohen Einsatz und Kompetenz aufgefallen sind.
Uns berührt, dass es hier eine eingeübte und sehr angenehme Kultur der Wertschätzung gibt. Immer wieder heißt es „Welcome, what can we do for you?“ Es wird viel gelobt, geklatscht und nach dem Wohlergehen des Gegenübers gefragt.

Abgesehen von Pikpa ist die Situation der Geflüchteten auf der Insel aber dramatisch. In dem großen Camp Moria leben etwa 10 000 Menschen, Kämpfe und Selbstmordversuche sind an der Tagesordnung. Besonders verletzbare Menschen gehen hier unter; Pikpa kann nur wenige von ihnen aufnehmen, sehr viele erhalten nicht den Schutz, den sie brauchen.
Wir lernen einen jungen Iraker kennen, der fließend deutsch spricht. Er war nach drei Jahren in Deutschland so von Heimweh geplagt, dass er seine Eltern wiedersehen wollte und zurückging. Er traf seine Eltern, aber die Situation war so gefährlich, dass er wieder auf die Flucht ging. Nun lebt er hier und kann bisher nicht nach Deutschland zurück. Er hilft als Freiwilliger in Pikpa und lebt in Moria. Er erzählte uns, dass eine Freiwillige ihm eine schöne Unterkunft für einen Monat besorgt hat, damit er sich mal für kurze Zeit von Moria erholen kann.

Viele hier sehen überhaupt keine Perspektive, da sie die Insel nicht verlassen können und die Abschiebung in die Türkei fürchten. Das oft monatelange oder für manche jahrelange Warten ist mit großem Stress verbunden. Allerdings entscheiden sich zunehmend Flüchtlinge, in Griechenland zu bleiben und hier einen Asylantrag bis zum Ende zu bringen. Dies ist wahrscheinlich eine direkte Reaktion auf den EU-Türkei Deal, denn seit 2016 steigen die Zahlen und lagen im Jahr 2017 schon bei 58 000 Anträgen. 46% der Flüchtlinge bekommen „im ersten Anlauf“ Asyl in Griechenland! Die Flüchtlinge haben sofort die Möglichkeit zu arbeiten, allerdings gibt es keine Integrationsprogramme und die finanzielle Versorgung ist mehr als schlecht. Ein Mann aus Pakistan erzählt uns, dass er 90,-€ pro Monat als Hilfe vom UNHCR erhält. Er teilt sich ein Zimmer mit einem Kumpel und bezahlt für das Zimmer 75€. Arbeit findet er nicht. Auch viele Griechen sind nach wie vor arbeitslos - in der Altersgruppe der 35 bis 50-Jährigen sind es etwa 20%. Da auf Lesbos noch dazu der Tourismus dramatisch zurückgegangen ist, hat ein Flüchtling kaum eine Chance auf legale Arbeit.

Für uns ist klar, dass die Arbeit in Flüchtlingsinitiativen in Deutschland genauso sinnvoll ist wie die Arbeit hier. Der Unterschied ist vielleicht, dass die Gesamtsituation hier für die Betroffenen härter ist und die Arbeit von Lesvos Solidarity beispielhaft aufzeigt, wie internationale Solidarität sehr respektvoll und basisdemokratisch funktionieren kann. Aus diesem Grund wollen wir das Projekt unbedingt weiter unterstützen.

Insgesamt waren wir sehr beeindruckt davon, wie viel sich bei Lesvos Solidarity weiterentwickelt hat und versichern euch, dass eure Spenden gut angelegt sind.
Herzlichen Dank allen, die das Projekt gefördert haben!

Spenden werden nach wie vor dringend gebraucht. Ganz persönlich haben wir es daran gemerkt, dass wir jeden Tag im Shop Wasser, das durch die Decke kam, aufwischen mussten – Leitungen und Konstruktionsteile des Hauses müssen dringend erneuert werden.

Ute wird im nächsten Jahr ungefähr vom 15. März bis zum 15. Juni hier arbeiten und eine Studienzeit haben. Wer über 23 Jahre alt ist und in der zweiten Hälfte dieser Zeit gerne eine Weile mitarbeiten möchte, kann mit ihr Kontakt aufnehmen. Ansonsten stehen wir für Fragen und Besuche in Gruppen (mit einer Power Point Präsentation) gerne zur Verfügung.

Obwohl wir in diesen Tagen oft das Gefühl hatten, uns in zwei einander widersprechenden Wirklichkeiten zwischen Strandidylle und Flüchtlingscamp zu bewegen, waren wir sehr dankbar – sowohl für die uns umgebende Schönheit der Natur als auch für die Schönheit des solidarischen Miteinanders, das wir hier erleben durften.

Mit herzlichen Grüßen, Gott segne euch, eure Ute Gniewoß und Nele Poldrack

Wer spenden möchte, kann dies auf diesen beiden Konten tun:

Kirchenkreis Oberes Havelland: Kirchenkreis Berlin Stadtmitte:
Empfänger: Ev. Kirchenkreisverband Eberswalde Empfänger: Ev. KG Heilig Kreuz-Passion
BIC: GENODEF1EK1 Evang. Bank e.G.,
IBAN: DE21 5206 0410 0603 9017 42 IBAN : DE 37 5206 0410 0203 9955 77,
Bitte unbedingt angeben !: „Flüchtlingsprojekt Lesbos“;
Kontoauszüge bis 200,-€ werden vom Finanzamt als Spende anerkannt. Wer eine Spendenbescheinigung braucht, schreibe bitte in den Verwendungszweck auch seinen Namen und Adresse
erstellt von Mathias Wolf am 06.11.2018, zuletzt bearbeitet am 28.02.2021
veröffentlicht unter: Flucht und Migration