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Flüchtlinge auf Lesbos
Foto: U. Gniewoß
Bildrechte: U. Gniewoß

Flüchtlinge auf Lesbos

Ein Brief von Pfarrerin Ute Gniewoß, Velten

Liebe Spender und Spenderinnen, liebe Interessierte!
Gerade aus Lesbos zurückgekehrt, möchte ich einige Eindrücke mit euch teilen. Zunächst: herzlichen Dank für die Spenden. Ich konnte (besonders aufgrund einer Großspende) 7500,-€ übergeben, die sehr dankbar in Empfang genommen wurden. Das Netzwerk „Dorf der alle zusammen“ lebt nur von Spenden, um seine Aktivitäten zu finanzieren, aber Gott sei Dank sind es einige Menschen aus unterschiedlichen Ländern und auch aus Griechenland, die spenden.
Im Zentrum des Netzwerkes „Pikpa“ werden zurzeit zwischen 100 und 150 Menschen betreut und versorgt. Es sind besonders verletzliche Menschen, die in Pikpa landen: Schwangere, Behinderte, Menschen, die Angehörige bei einem Schiffbruch verloren haben... Sie bleiben einige Tage oder auch Wochen, je nach ihrer Möglichkeit weiterzukommen. In einer großen Küche werden pro Tag zwischen 1000 und 2000 Essen von Freiwilligen gekocht, die dann in den Registrierungsstellen auf der Insel an Flüchtlinge verteilt werden. Es werden zwei Übersetzer vom Netzwerk bezahlt und eine Krankenschwester. Zwei Projekte sind in Vorbereitung: ein Restaurant, in dem Flüchtlinge mitarbeiten und das nur sehr preisgünstiges Essen ausgibt und ein Nähprojekt, bei dem Taschen aus den am Strand liegenden Rettungswesten hergestellt werden sollen, die dann verkauft werden.
Für mich grenzte es an ein Wunder, dass all diese Aktivitäten laufen und vorbereitet werden, denn es gibt dort für niemanden so etwas wie ruhiges Planen und Arbeiten. Die menschlichen Schicksale, mit denen alle Helfenden dort täglich konfrontiert sind, sind monströs. Während meines Aufenthaltes gab es einen größeren Schiffbruch, vier Tote wurden gleich geborgen, 12 in den nächsten Tagen, aber wie viele es waren, weiß niemand, weil nicht klar war, wie viele Menschen auf dem Schiff waren. Da das Netzwerk darauf besteht, dass jeder Tote würdig beerdigt wird und sie nicht so schnell beerdigen konnten, wie es Tote gab, war gerade eine große Kühlanlage für Leichen angeschafft worden – für die Opfer eines Schiffbruchs, der einige Tage zuvor geschehen war. Die Überlebenden des letzten Schiffbruchs sind in Pikpa untergekommen und das Netzwerk bemüht sich um psychologische Begleitung, aber die Situation bleibt einfach furchtbar. Eltern befinden sich im seelischen und geographischen Niemandsland, plagen sich mit der Frage nach Schuld und wissen oft nicht gleich, wo, wie und mit welchem Geld ihre Kinder beerdigt werden können. Im Krankenhaus wird um jedes Leben gekämpft, Schwerverletzte werden nach Athen ausgeflogen, aber gerade Kinder sterben schnell an Unterkühlung.
An einem Tag war ich ich in Sikamnia, wo viele der überbesetzten Schlauchboote ankommen. Freiwillige stehen auf der griechischen Seite und sobald ein Boot in Sichtweite ist, winken sie mit Fahnen und ihren Armen und rufen laut um das Boot an eine sichere Stelle zu dirigieren und den Menschen im Boot Mut zu machen. Einmal war ein Motor ausgefallen und es wurde eineinhalb Stunden so gewunken und gerufen, bis die ankommende Gruppe es mit Paddeln geschafft hatte. Dann taumeln die Menschen aus den Booten, werden willkommen geheißen und vielen wird eine Rettungsfolie umgelegt. Fast alle sind nass und viele haben keine Wechselkleidung, weil sie kaum Gepäck mitnehmen durften. Eine Zusammengebrochene wurde mit Sauerstoff versorgt, in ein privates Auto gepackt und unter Hupen von Freiwilligen zu einem Arzt gebracht. Die Ankommenden wissen, dass sie eine lebensgefährliche Fahrt hinter sich haben. Die meisten gehen dann los, zu Fuß und weit, um zur Registrierungsstelle zu gelangen. Je schlechter das Wetter wird, umso preisgünstiger und gefährlicher wird die Überfahrt (im Sommer kostete sie ca. 3000,-€; jetzt sind es etwa 1000,-€). Aber die Menschen kommen, weil sie keine Alternative haben. Sie werden weiter diesen Weg nehmen und es werden weiter viele dabei umkommen, wenn es nicht gelingt z.B. den Landweg wieder zu öffnen oder die Geflohenen gleich mit guten Schiffen an der Türkischen Küste abzuholen und in ein sicheres Land zu bringen. Was hier geschieht, ist ein Verbrechen.
Auf der Insel müssen die Flüchtlinge dann lange Fußwege zurücklegen, manche nehmen ein Taxi und ein paar Busse fahren auch, aber die meisten laufen. Nach der Registrierung, die manchmal Tage dauert, warten sie dann im Hafen von Mytiline auf ein Schiff. Warme Kleidung und Decken werden in großen Mengen gebraucht. Einer meiner Jobs in diesen Tagen war es, Kleidung zu sortieren und dann im Hafen oder in Sikamnia zu verteilen. Nicht wenige Flüchtlinge verbringen all diese Tage draußen, weil die Zelte in den Camps nicht reichen. In den ersten Tagen meines Aufenthaltes hat es ununterbrochen geregnet und die Menschen waren nass bis auf die Haut. So standen sie dann in der langen Schlange in der Registrierungsstelle Moria und wenn sie endlich das ersehnte Papier hatten (in dem ihnen bescheinigt wird, dass ihre Abschiebung um 30 Tage verschoben wird), wussten sie nicht, wie sie dieses Papier trocken weiterbefördern konnten, weil alles nass war.
Manche der Geflohenen hatten bei ihrer Ankunft in Lesbos 20 Tage Flucht hinter sich, aber andere waren schon über zwei Jahre unterwegs, weil sie nicht nach Europa kommen wollten und erst versucht haben, in den Nachbarländern Syriens und Afghanistans bleiben zu können. Manche hatten einen eigentümlich tapsigen Gang – erst nach einer Weile habe ich verstanden, dass sie Blasen an den Füssen hatten und daher vermieden, den Fuß abzurollen. Was auf Lesbos geschieht, ist nur eine Station der Flucht. Wer bei uns in Deutschland ankommt, hat viele Stationen hinter sich und wir sehen es den Menschen nicht an. Wir wissen nicht, wie viel Gewalt und Gefängnisaufenthalte sie hinter sich haben. Wir sehen nicht, wo überall auf der Welt ihre Angehörigen sind und wie viele aus ihrer Familie umgekommen sind. Wir wissen nicht, wo die Gräber sind, zu denen sie nicht mehr gehen können. Mir wurde noch einmal klar, dass wir das unbedingt in Kopf und Herz haben müssen, wenn wir ihnen hier begegnen.
In all diesem Chaos gibt es aber eine gute Nachricht: Jeden Tag stehen Menschen in Pikpa und sagen: „Hier sind wir, was können wir tun?“ Freiwillige aus Griechenland, aus allen europäischen Ländern, selbst aus den USA und Australien tauchen auf und helfen. Manchmal finden sie nicht gleich eine Aufgabe und auch unter den ungefähr 50 Organisationen, die auf der Insel tätig sind, gibt es kaum Koordination. Aber die Freiwilligen sind da und packen an. Eine Gruppe von Polizisten aus Madrid macht ihren Urlaub und hilft von morgens bis abends am Meer. Eine Australierin winkt seit vier Monaten am Strand die Ankommenden heran. Eine Niederländerin hat Wohnung und Arbeit aufgegeben, um hier zu helfen. Ihren Unterhalt finanziert sie durch die Unterstützung von Freunden und Bekannten, die sie regelmäßig in einem Blog informiert. In Pikpa sortieren Menschen aus fünf verschiedenen Ländern die ankommende Kleidung. Ein Ehepaar aus Hamburg hat zehn Zelte organisiert; sie werden aufgebaut und gleich mit Menschen gefüllt. Ein Paar aus Berlin finanziert den Sprachunterricht und die Beschäftigung mit den Kindern. Ein griechisches Ehepaar stellt sein Hotel für Helfer zur Verfügung und versorgt sie kostenlos. Eine Dokumentarfilmerin fängt tagelang Bilder ein, um vielleicht einmal einen Film daraus machen zu können. Eine Schweizerin hat gerade ihr Studium beendet und will jetzt „etwas Sinnvolles tun.“ Eine Gruppe von Clowns macht Programm und Musik für die Kinder in den Camps.
Und diejenigen, die diese Arbeit schon lange tun und vor Ort leben, nehmen sich oft in den Arm, weinen zusammen und drücken sich. „Was stärkt euch in dieser Arbeit?“ habe ich am letzten Abend einige der griechischen OrganisatorInnen gefragt. „Die Solidarität, die wir erleben und die Hoffnung, dass es so nicht bleiben muss, wie es jetzt ist“, war die Antwort.
Für Rückfragen stehe ich gerne zur Verfügung. Im nächsten Jahr werde ich wieder nach Lesbos reisen. Da das „Dorf der alle zusammen“ seit Kurzem auch eine eigene juristische Struktur hat, können Spenden jetzt auch zwischendurch von uns weitergeleitet werden. Bitte geben Sie diesen Brief an Interessierte weiter und werben Sie um Unterstützung.
Ich danke Ihnen und euch herzlich, Ute Gniewoß
Velten, den 2.11.2015

Kontoverbindung:
Empfänger: Evang. KK-Verband Eberswalde,
Evang. Bank e.G.,
IBAN: DE 215206 0410 0603 9017 42,
BIC: GENODEF1EK1
Bitte angeben: „Flüchtlingsarbeit KK Lesbos“
erstellt von Mathias Wolf am 02.11.2015, zuletzt bearbeitet am 06.02.2022
veröffentlicht unter: Arbeitsgruppe für Flucht und Migration